Einer, der etwas erfahren hat
Die christlichen Kirchen verlieren in vielen Ländern Europas jedes Jahr eine große Zahl von Mitgliedern. Meistens ist dabei der formelle Austritt nur der Endpunkt einer oft über Jahrzehnte vor sich gegangenen Entfremdung vom christlichen Glauben überhaupt. Viele Menschen haben den Eindruck, dass die Inhalte der kirchlichen Verkündigung mit ihrem Leben nichts zu tun haben, sie können damit nichts mehr anfangen. Der diesjährige Studientag der Ordensgemeinschaften im Bistum Passau wollte deshalb einmal in die entgegengesetzte Richtung gehen. Wo liegen die Quellen der Erkenntnis und Erfahrung, die für viele Menschen heute nicht mehr zugänglich sind, Quellen, in denen der christliche Glaube seinen Ursprung hat? Dieser Frage ging der diesjährige Studientag der Ordensgemeinschaften im Bistum Passau nach. Dabei entfaltete Prof. Dr. Schwienhorst-Schönberger vor den versammelten Ordensleuten die Bedeutung der christlichen Mystik.
Geheimnisvoll schillert das Wort ‚Mystik‘. Doch was ist damit gemeint? Eine Deutung hebt auf außergewöhnliche Erfahrungen ab, wie sie etwa von Heiligen berichtet werden. Mystik hätte dann nur im Leben weniger Christen einen Platz. Ein anderes Verständnis dagegen sieht den Kern der Mystik in einem Leben in der Gegenwart Gottes. Gott ist zwar immer gegenwärtig, aber das ist nicht allen bewusst. Vor allem hier liegt die Bedeutung der außergewöhnlichen Erfahrungen. Sie bedeuten einen Durchbruch, in dem eine tiefere Dimension der Wirklichkeit bewusst wird und prägende Bedeutung gewinnt.
Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch über die Bedeutung der Mystik für das Christentum. Manche protestantische Theologen wie Adolf von Harnack oder Karl Barth nahmen ihr gegenüber eine ablehnende Haltung ein und führten sie auf außerchristliche Einflüsse zurück. Demgegenüber sieht Bernard McGinn im Christentum eine Religion, die für ein mystisches Verständnis offen ist. Denn sie ist aus Gotteserfahrung entstanden. Die Heilige Schrift berichtet grundlegende Ereignisse dieser Art: Mose am brennenden Dornbusch, Wunder, die Jesus wirkt und seine Auferstehung, die Bekehrung des Apostels Paulus vor Damaskus. Aus solchen Durchbruchserfahrungen erwächst der Glaube, der dann bezeugt und in Lehre und Ritus weiter entfaltet wird. Dabei haben jene, die auf das Wort der Zeugen hin die Glaubensbotschaft annehmen, nicht ohne weiteres selbst eine entsprechende Erfahrung. Jedoch wird der Glaube bei den folgenden Generationen durch vielfältige kulturelle und gemeinschaftliche Formen gestützt. Brechen solche Stützen weg, wie es in der Gegenwart in unserem Kulturkreis der Fall ist, gerät der Glaube in eine Krise. Von da her ist das berühmte Dictum Karl Rahners zu verstehen: „[D]er Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im Voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird“. Wenn jemand die Quelle nicht mehr kennt, aus der die ersten Glaubenszeugen geschöpft haben, wird der Glaube schwach und verliert sich.
Wie kann die Kirche auf diese Situation reagieren? Zwei Wege sind denkbar: Auf der einen Seite das Bemühen, die christliche Gesellschaft zu revitalisieren, und auf der anderen Seite das Bemühen, an die Wurzeln zu gehen. Das Letztere scheint durchaus vielversprechend, da Menschen auch mitten im säkularen Kontext außergewöhnliche Erfahrungen machen. Erst kürzlich hat der Pastoraltheologe Eberhard Tiefensee darauf aufmerksam gemacht, dass es auch bei Atheisten mystische Erfahrungen gibt.
Mystische Erfahrung
Prof. Schwienhorst-Schönberger verdeutlichte die Struktur einer mystischen Erfahrung am Beispiel des englischen Benediktiners Bede Griffiths. In seiner Autobiographie berichtet dieser: „Gegen Ende meiner Schulzeit ging ich eines Abends allein spazieren und hörte den vollen Chorgesang der Vögel, wie man ihn nur bei Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang und nur zu dieser Jahreszeit zu hören bekommt. Noch heute erinnere ich mich an die Überraschung, die ich empfand, als der Klang plötzlich an meine Ohren drang. Mir schien, ich hätte die Vögel noch nie singen gehört, und ich fragte mich, ob sie das ganze Jahr so sängen, ohne dass ich es gemerkt hätte. Als ich weiterging, stieß ich auf einige voll erblühte Weißdornbüsche, und wieder glaubte ich, noch nie einen solchen Anblick gesehen und niemals solchen Liebreiz empfunden zu haben. Wäre ich plötzlich unter die Bäume des Gartens Eden versetzt worden und hätte dort einen Engelchor singen gehört, hätte ich nicht verwunderter sein können. Sodann erreichte ich eine Stelle, an der man sehen konnte, wie die Sonne über den Sportplätzen unterging. Auf einmal flog eine Lerche neben dem Baum, an dem ich stand, vom Boden auf und ließ ihr Lied über mir erklingen, bis sie nach wie vor singend herabflog , um zu schlafen. Dann wurde alles still, als die letzten Sonnenstrahlen verschwanden und der Schleier der Dämmerung die Erde bedeckte. Ich entsinne mich des Gefühls der Ehrfurcht, das über mich kam. Ich wollte auf dem Boden niederknien, so als sei ein Engel gegenwärtig. Ich wagte es kaum, zum Himmel aufzublicken, denn es kam mir vor, als wäre er nur ein Schleier vor dem Angesicht Gottes.“
Äußerlich gesehen geschieht in diesem Bericht nichts Besonderes, es geschehen keine „Wunder“, und doch ist diese Erfahrung außergewöhnlich. Denn das Gewöhnliche zeigt sich hier auf eine außergewöhnliche Art. Bisher hatte Bede Griffiths die Dinge oberflächlich wahrgenommen. Doch nun passiert etwas Außergewöhnliches in seinem Bewusstsein, das sich seinem Gedächtnis tief einprägt. Man kann hier von einer ‚Spontanerfahrung‘ sprechen, von einem ‚sensitiven Erwachen‘: Plötzlich wird eine Dimension der Wirklichkeit wahrgenommen, die bisher verschlossen war. Es geht dabei nicht nur um eine schöne Erfahrung, um angenehme Gefühle. Vielmehr bedeutet diese Erfahrung einen Bruch gegenüber der vorausgehenden Situation.
Bede Griffiths war damals Agnostiker. Die Erfahrung, die er beschreibt, ereignete sich in einem profanen Kontext und war in keiner Weise intendiert. Sie stellte sich unvorhergesehen und plötzlich ein. Auch wenn man um die Bedeutung einer solchen Erfahrung weiß, kann man sie nicht willentlich herbeiführen. Sie ist unverfügbar, eine Gabe.
Auch wenn Bede Griffiths damals Agnostiker war, deutete er eine außergewöhnliche Naturerfahrung doch spontan durch religiöse Bilder. Er verspürt den Impuls, niederzuknien und spricht vom Garten, Eden, von der Gegenwart eines Engels, vom Himmel und dem Angesicht Gottes. Es sind Vergleiche „als ob“. Und doch leuchtet durch die besondere Wahrnehmung der Natur deren ungegenständlicher Hintergrund mit auf. Der bisher unbekannte Hintergrund seiner Erfahrung brach in sein Bewusstsein ein. Gott kann nicht selbst direkt wahrgenommen werden. Mit Meister Eckhart gesprochen: Gott ist nicht dies und nicht das. Er ist nichts von alledem.
Dem Unterschied zwischen der empirischen Wirklichkeit, die jeder beobachten kann, und deren tieferem Hintergrund, der in einer Durchbruchserfahrung aufleuchtet, entspricht auf Seiten des Menschen der Unterschied zwischen dem empirischen Ich und dem wahren Selbst des Menschen. Die Moderne neigt dazu, den Menschen einfach mit seinem empirischen Ich zu identifizieren. Doch besonders in Krisensituationen bricht ein Gespür dafür auf, dass der Mensch noch mehr ist. Eine Sehnsucht, die durch innerweltliche Erfüllungen nicht gestillt werden kann, meldet sich. Der christliche Glaube lädt dazu ein, dem auf den Grund zu gehen. Dieser Weg des Zu-Grunde-Gehens führt zum wahren Leben, während der Versuch, das Ego zu retten, zum Tod führt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24). Dieses Wort erschließt die Struktur des menschlichen Lebens.
Die Erfahrung, von der Griffiths erzählt, ist für unser Empfinden etwas Außergewöhnliches. Doch wenn wir es gründlicher bedenken, können wir sagen: Sie ist eigentlich das „Normale“. Denken wir nur an das Staunen, mit dem Kinder nach und nach die Welt entdecken. Sie begegnen vielen Dingen so, als wäre es das erste Mal. Doch als Erwachsene haben wir das Staunen und den Glauben weitgehend verlernt. Wir müssen uns konzentrieren, um eine Aufgabe zu erledigen. Die habitualisierten Übersprungshandlungen, die uns nicht bewusst sind, führen dazu, dass wir die Dimension der Wirklichkeit, die uns in der ungegenständlichen Erfahrung erschlossen wird, vergessen haben und gar nicht mehr kennen. Der Philosoph Martin Heidegger hat das als „Seinsvergessenheit“ bezeichnet. Auch unser Glaube ist im Grunde ein weitgehend säkularisierter Glaube. Er bewegt und artikuliert sich vorrangig auf der Ebene unseres empirischen Ich. Gibt es eine Möglichkeit, die verlorene Dimension wieder zu gewinnen und aus ihr heraus zu leben?
Kontemplation
Unsere moderne Kultur gründet vor allem auf den Errungenschaften des empirischen Ich. Das Ich will etwas erreichen. Es beobachtet die Dinge. Es zieht seine Schlussfolgerungen daraus. Die daraus hervorgehenden Handlungen sind zielorientiert. Zur Erreichung der Ziele werden bestimmte Mittel eingesetzt. Diese Mentalität ist zum Markenzeichen der westlichen Zivilisation geworden. Zum Problem wird sie, wenn sie ihren so erfolgreichen Zugang zur Wirklichkeit verabsolutiert. Der moderne Säkularismus ist im Grunde der Versuch, die hintergründige, numinose Qualität der Wirklichkeit zu leugnen und aus dem kulturellen Gedächtnis zu eliminieren. Er sieht sich jedoch mit Gegenbewegungen konfrontiert. Insbesondere gibt es in unserer Gesellschaft seit etwa vier Jahrzehnten ein stabiles Segment, das für sich eine tägliche und ernst zu nehmende spirituelle Praxis neu entdeckt hat. Es gibt Menschen, die Elemente der klassisch monastisch geprägten Tradition aufgegriffen und in ihren alltäglichen Lebensvollzug implementiert haben.
Man kann die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung, um die es hier geht, mit den Begriffen ‚beobachten‘ und ‚schauen‘ umschreiben. Ein Naturwissenschaftler beobachtet, Bede Griffiths hat geschaut. Gegen das Beobachten ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Zum Problem wird es jedoch, wenn es zum einzig gültigen Zugang zur Wirklichkeit erklärt wird. Wenn wir im Himmel sind, werden wir Gott nicht beobachten, sondern wir werden ihn schauen. Christlich gesehen ist das Leben des Menschen ein Weg vom Glauben zum Schauen. Dabei hat die Übung der Kontemplation eine große Bedeutung. Denn wir können das Schauen nicht machen. Doch wir können uns darin üben, all das zu lassen, was das Schauen hindert. Eben darum geht es in der Kontemplation.
Ein Weg, der dahin führen will, ist die lectio divina. Sie geht auf die frühen Mönchsväter zurück, und hat durch den Kartäuser Guigo II. († 1188) eine klassische Darstellung erhalten. Es beginnt mit dem Lesen eines Wortes der Heiligen Schrift (lectio), über dessen Sinn der Lesende dann nachdenkt (meditatio). Themen und Anliegen, die sich da zeigen, werden darauf in ein Gespräch mit Gott eingebracht (oratio). Das Gebet mündet dann in das schweigende Verweilen in der Gegenwart Gottes (contemplatio). Diese spirituell tief angelegte Praxis der lectio divina ist in der Neuzeit für lange Zeit verloren gegangen. Erst in der Gegenwart gibt es wieder beachtliche Bestrebungen, sie wiederzugewinnen. Diese Bemühungen knüpfen zum Teil dort an, wo in der Vergangenheit vielversprechende Entwicklungen abgebrochen wurden.
Prof. Schwienhorst-Schönberger hob hier besonders die Übung der Kontemplation hervor. Schon die ägyptischen Wüstenväter kannten das ungegenständliche Gebet. So rät Evagrius Pontikus: „Halte deinen Geist überhaupt frei von jeglicher Form und nähere dich ohne jede Materie dem immateriellen Wesen, denn so nur wirst Du es erkennen.“ Doch erst die „Wolke des Nichtwissens“, die zwischen 1375 und 1400 von einem Kartäuser-oder Augustinermöch verfasst wurde, lehrt die Kontemplation als eine eigene, von der Meditation zu unterscheidende Übung. Ihr geht es darum, alle Vorstellungen und mentalen Akte hinter sich zu lassen und sich „wortlos“ „in Gottes reine Gegenwart“ zu versenken: „Daher übe fleißig dieses ‚Nichts‘ und ‚Nirgendwo‘. Lass deine äußeren leiblichen Sinne ruhen, denn es ist wirklich so: Für dieses innere Geschehen sind sie nicht zuständig“.
Hier stellt sich freilich die Frage: Welche Rolle spielt Jesus Christus in dieser Form des bildlosen Gebetes? Prof. Schwienhorst-Schönberger verwies hier auf das Wort Jesu in Joh 16,7.13: „Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden. … Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten.“ Das kontemplative Gebet macht Ernst mit diesem Wort. In einem schmerzhaften Prozess lernen die Jünger, sich von einer spezifischen Form der Gegenwart Jesu lösen. Er kann und muss von ihnen gehen, da er in ihnen ist und sie in ihm (Joh 14,20). In seinem „Brief persönlicher Führung“ erläutert Guigo diesen Gedanken anhand des biblischen Bildes von Christus als der Tür (Joh 10,9). Viele bleiben vor dieser Tür stehen ohne einzutreten. Das ist gut, aber sie werden nicht zur Fülle des Heils gelangen. Im Warten draußen vor der Tür sieht Guigo ein Bild für die Meditation. In diesem geduldigen Warten kommt es darauf an, ein Gespür zu entwickeln „für die verborgene Führung des Geistes in der Tiefe des Herzens und [zu] warten, bis dieser ihn anrührt und ihm ein Zeichen gibt einzutreten“. Johannes vom Kreuz spricht ebenfalls vom Eintritt in die kontemplative Phase des Glaubens. Er vergleicht sie mit dem Abstillen eines Kindes „wie es eine liebevolle Mutter mit einem zarten Kind macht. Sie wärmt es an ihrer warmen Brust, zieht es mit köstlicher Milch und leichten, süßen Speisen auf, trägt es auf dem Arm und verwöhnt es. In dem Maße aber, wie es größer wird, hört die Mutter nach und nach auf, es zu verwöhnen, verbirgt ihre zarte Liebe und bestreicht ihre süße Brust mit bitterem Aloesaft. Sie lässt es von ihren Armen herab und stellt es auf die eigenen Füße. Es soll die Eigenheiten eines Kindes verlieren und sich größeren, wesentlicheren Dingen hingeben“ (Dunkle Nacht I).
Manches an dieser Sicht des spirituellen Lebens mag uns auf den ersten Blick ungewohnt, ja fremd erscheinen. Genügt es nicht, ein einfacher Christ zu sein? Es genügt, wenn der Geist Gottes einen so führt. Doch gibt es auch viele Menschen, die Fragen haben und nach einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit suchen. Ja, letztlich sind doch alle Menschen berufen, im Glauben einen Weg des Wachstums und voranschreitender Reifung zu gehen. Und da es hier vor allem auf die Praxis ankommt, schloss dieser für die Teilnehmer sehr eindrucksvolle Studientag mit einer Zeit inneren Gebetes in der Stille.
Text und Fotos: P. Dr. Augustinus Weber OSB