Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!
Von dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard stammt ein tiefes Wort, gleichzeitig ein Wortspiel. Er schreibt über sich selbst: „Ich wäre zugrunde gegangen, wäre ich nicht zu Grunde gegangen“. Das erste „zugrunde gehen“ meint Sterben, Vergehen, das zweite meint: zum eigenen Grund gehen, in die Tiefe gehen, in die Tiefe des eigenen Herzensgrundes. Also übersetzt etwa so: Ich hätte ein elendes Ende gehabt, wäre ich nicht mir selbst auf den Grund gegangen.
Viele von uns spüren vielleicht ähnlich wie Kierkegaard: Wir alle haben eine innere Tiefe – aber wir halten uns oft an der inneren Oberfläche und mit oberflächlichen Dingen auf. Wer von uns wäre nicht in der Versuchung, sich täglich mit Medienkonsum zu benebeln oder zum Beispiel mit oberflächlichem Gerede. Oder gibt es nicht die Versuchung zur Eitelkeit, zur Selbstdarstellung nach außen, auch wenn wir ahnen, dass es innen nicht immer so großartig aussieht. Oder verfolgen wir nicht manchmal auch Ziele, von denen wir ahnen, dass sie uns vielleicht oberflächlich befriedigen, aber doch nicht in der Tiefe des Herzens. Das Streben nach Macht, Reichtum, Sicherheit oder körperlichem Genuss kann einen sehr beschäftigen – bis dahin, dass wir Getriebene werden – ohne uns je wirklich auf den Grund zu kommen.
Am heutigen Evangelium sehen wir auch, dass auf dem Weg zum eigenen Grund nicht immer nur der Frieden wartet: Jesus fastet 40 Tage in der Wüste. Und diese 40 Tage Jesu lassen uns gleich an mehrere biblische Ereignisse erinnern: Das Volk Israel etwa ist 40 Jahre durch die Wüste gewandert – ehe es von Gott erzogen war, ehe es die Reife und Tiefe hatte, ins gelobte Land einzuziehen. Oder Elijah, der Prophet, durchwandert 40 Tage und Nächte die Wüste, ehe er Gottes Gegenwart im leisen Windhauch wahrnehmen kann. Auch Mose erlebt auf dem Berg Sinai eine Art Wüstenzeit, ehe ihm Gott nach 40 Tagen die Zehn Gebote offenbart. Vierzig Tage Wüste stehen für Zeiten der Reifung, der Erprobung, des inneren Ringens. Auch für mich: Glaube ich, dass es auch in mir selbst den Schatz im Acker zu finden gibt, den inneren Reichtum, die Begegnung mit dem lebendigen Gott – eine Begegnung, die in mir wirklich den Frieden, die Freude, die Zufriedenheit hervorbringen kann? Eine Berührung, die mein Leben dann auch zu einem Zeugnis von Gottes Gegenwart werden lässt? Wir ahnen, dass auch wir in diesen Zustand nicht ohne Kampf finden, nicht ohne die Übung des Verzichts, nicht ohne das Ringen um wirkliche innere Freiheit und nicht ohne das Überwinden von schlechten Abhängigkeiten.
Und das Schöne ist: Das Evangelium von heute zeigt uns, dass Jesus selbst für uns und an unserer Seite die abgründigsten Versuchungen durchlebt hat. Der Teufel persönlich stellt ihm in dramatischer Weise das vermeintlich Große vor Augen, dass Jesus selbst vollbringen könnte. Sich selbst den Hunger stillen durch das eigene Wunder und die eigenen Kräfte; sich selbst zum Mächtigsten machen, wenn ich die falsche Macht anbete; sich selbst in spektakulärer Show vom Tempel in Jerusalem zu stürzen, um endlich die Anerkennung von seinem Volk zu bekommen, die ihm zusteht. Alles aus eigener Macht tun, selbstherrlich, und dabei heimlich dem Selbstherrlichsten von allen, dem größten Blender von allen auf den Leim gehen – dem Teufel. Und wer von uns wäre je schon frei, solchen Versuchungen zu widerstehen.
Aber Jesus geht voller Souveränität den anderen Weg. Er geht den Weg, den Gott, der Vater ihm weist; den Weg des Vertrauens auf das Wirken des Vaters auch in der allertiefsten Nacht bis ans Kreuz. Jesus ist daheim, innerlich immer daheim beim Vater. Es gibt keinen Moment, in dem er nicht aus diesem inneren Grund leben würde; aus der Gemeinschaft mit dem Vater, der ihm alles gibt; der ihm Leben schenkt, und Freiheit, und Frieden – und zuletzt den Sieg über den Tod. Jesus geht diesen Weg für uns, damit auch wir keine Angst haben müssen vor den Wüstenzeiten unseres Lebens. Wir dürfen lernen, mit ihm voll Vertrauen hindurchzugehen, mit ihm zu kämpfen, mit ihm den kleineren und größeren Versuchungen zu widerstehen, die uns an der Oberfläche gefangen halten.
Liebe Schwestern und Brüder,
wir leben in einer Zeit der großen Veränderungen in der Gesellschaft und in der Kirche. Ich glaube, es sind Wüstenzeiten, also auch Zeiten der Versuchung, aber auch Zeiten, die uns zugleich in mehr Tiefe und größeres Vertrauen auf den Herrn führen können. Wir begegnen als Einzelne und als Gemeinschaft immer wieder den großen Fragen: Was ist uns wirklich wichtig? Was macht den echten Sinn meines Lebens aus? Wovon lasse ich mich gefangen nehmen – und an der Oberfläche halten? Was ist uns heute als Kirche, als Pfarrei oder kirchliche Gemeinschaft wirklich wichtig? Warum tun wir uns oft schwer, mit Jesus zum Grund unseres Lebens zu gehen, den inneren Kampf aufzunehmen, gegen Abhängigkeiten, schlechte Angewohnheiten, gegen Sünde und allzu oberflächliches Leben? Und warum schützen wir uns oft so sehr vor wirklicher Hingabe, wirklichem Dienst am anderen? Sicher auch, weil unsere Zeit so voll ist von schillernden Möglichkeiten, von Verheißungen und Versprechen, die so oft nicht halten, was sie uns vorgaukeln. Sicher auch, weil eben viele der Kirche und dem Glauben schon den Rücken gekehrt haben, weil sie uns nicht mehr glauben – oft aus gutem Grund.
Aber ich möchte Ihnen heute aus voller Überzeugung versichern: Der Herr ist da – wir gehen durch die Prüfungszeiten und Wüsten unseres Lebens und unserer Kirche nicht alleine. Wir sind und bleiben begleitet von dem, der das Universum in der Hand hält, der die Kirche in der Hand hält – und jeden einzelnen von uns. Aber er wohnt am Grund unseres Herzens und auch wir gehen zugrunde, wenn wir nicht immer wieder zu diesem Grund gehen.
Ich möchte Sie einladen, in den kommenden Wochen des Zugehens auf Ostern, bewusst Wüstenzeiten einzulegen; Zeiten, Tage, die Sie sich mit Jesus nehmen und für ihn, mit ehrlichem Gebet, mit Stille, mit dem Lesen der Schrift. Und Zeiten und Tage, in denen Sie auf Nahrung verzichten, um zu spüren, dass sie nicht vom Brot allein leben, sondern von seiner Gegenwart. Und Zeiten, in denen Sie sich bewusst in den Dienst stellen – am armen Menschen, oder in den Dienst an unserer kranken Schöpfung. Scheuen Sie sich nicht, auch einmal einen durchaus radikaleren, ernsthaften Schritt zu machen. Einen Schritt des bewussten Verzichts, und nicht einen Selbstbetrug in der Art, zwar kein Fleisch, dafür aber den besseren Fisch zu essen. Vielleicht machen Sie mal eine Spende, die Ihnen wirklich weh tut – um des Herrn willen. Oder vielleicht verbringen Sie Zeit mit einem einsamen Menschen, der Sie aber eigentlich nervt – aber Sie tun es um Jesu willen. Und schauen Sie ehrlich in Ihr Leben, was Sie hindert, wirklich auf Gott zu vertrauen, schauen Sie auf Ihre Versuchungen und bringen Sie sie wieder einmal in die Beichte, das Sakrament unserer Rückkehr zum Gott des Lebens. Lenken Sie Ihren Blick aber auch auf darauf, wo Sie schon gut unterwegs sind – auf Gott hin; auf all das, wofür Sie dankbar sein dürfen, besonders für Ihren Glauben, Ihre Liebe und Ihre Sehnsucht. Unsere geistliche Tradition hat immer gewusst, dass wir besondere Zeiten brauchen, auch Zeiten des Verzichts, um in die Tiefe zu finden – damit die Gnade, die uns an Ostern geschenkt wird – auch spürbar wird. Als Freude an der Auferstehung dessen, der gesiegt hat über jede Versuchung und über den Tod – und der uns teilhaben lassen will an seiner Freude und seinem Frieden. Gott segne Sie alle auf diesem Weg.
Passau, 1. Fastensonntag 2019
Dr. Stefan Oster SDB
Bischof von Passau