
Einen Menschen kennen - und einen Menschen WIRKLICH kennen, ihm begegnen, macht einen großen Unterschied, erklärt Domkapitular Anton Spreitzer in seiner Predigt zum 14. Sonntag im kirchlichen Jahreskreis am 4. Juli 2021. Mit Christus verhält es sich nicht anders. Erst in der Begegnung mit ihm lernen wir ihn auch wirklich kennen.
Hand auf’s Herz: Von welchen Menschen würden Sie sagen, dass Sie sie kennen? Also: nicht nur oberflächlich irgendwie mit ihnen bekannt sind, sondern sie wirklich kennen? Wirklich wissen, wer sie sind? Ich vermute, es geht Ihnen ähnlich wie mir: Wenn wir mit einer so hohen Messlatte unsere Bekanntschaften durchgehen, dann bleiben nicht wirklich viele Menschen übrig.
Das erschreckt einerseits und macht vielleicht verlegen; auf der anderen Seite aber ist es auch irgendwie verständlich. Denn einen anderen kennen, ihn oder sie wirklich kennen – dazu braucht es vor allem eines: dass man sich auch wirklich begegnet, nicht nur nebeneinander her lebt oder sich nur flüchtig bekannt macht und eigentlich eher aneinander vorbeigeht. Es braucht, dass man voreinander stehen bleibt, von Angesicht zu Angesicht – im wirklichen und im übertragenen Sinn. Erst wenn ich und der oder die Andere Zeit haben, einen Blick aufeinander zu werfen, und noch einen zweiten und dritten; wenn wir uns Zeit gönnen füreinander und miteinander – dann kann es zu einem wirklichen Kennen und Erkennen kommen.
Ihnen entgeht ein toller Beitrag!
Es wundert nicht, dass in einer Zeit wie der unseren, in der der Zeitmangel chronisch geworden und Stress schon eine Art Volkskrankheit geworden ist, wirkliches Kennenlernen und gegenseitiges Erkennen immer seltener wird. Aber wir brauchen nicht zu meinen, dass das in früheren Zeiten recht viel anders war. Da hatte man zwar mehr Zeit für viele Dinge; und so etwas wie Stress ist tatsächlich eine der vielen zweifelhaften Errungenschaften erst unserer technischen Superwelt. Aber was das wirkliche Kennen und Erkennen anderer Menschen anbelangt – da sind wir nicht schlechter dran als unsere Vorfahren.
Jesus erfährt es im Evangelium des heutigen Sonntags am eigenen Leib: Er lehrt in der Synagoge seiner Heimatstadt und versetzt die Menschen dort in Erstaunen über seine Weisheit und die Machttaten, die durch ihn geschehen. Sie fragen: „Woher hat er das alles?“ Und sie versuchen es sich zu erklären, indem sie das tun, was wir auch heute noch so oft und gerne miteinander tun: sie stecken Jesus in eine Schublade: „Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?“
Kurz gefasst: Sie sagen sich: Den kennen wir ja; wir wissen, wer er ist. Kein anderer als wir auch. – Das sagen sie zu sich; und sie wünschen sich, dass es so wäre. Aber in Wirklichkeit ist es ganz anders: Jesus ist eben nicht wie sie! Und weder passt noch gehört er in die Schublade, die sie für ihn vorbereitet haben. Und weil die Leute das nicht wahrhaben wollen, nehmen sie Anstoß an ihm und lehnen ihn ab.
Offenbar gibt es eine Nähe, die zu nah ist und gleichzeitig keine wirkliche Begegnung, nur eine oberflächliche und darum scheinbare Vertrautheit. Echtes gegenseitiges Kennen und Erkennen braucht: den richtigen Abstand, den richtigen Blick, Zeit für richtige Begegnung – und geschlossene Schubläden.
Anton Spreitzer
Domkapitular