„Geht bis an den Rand“, dazu hat Papst Franziskus bei seiner ersten Generalaudienz im März 2013 aufgefordert. Dieser Aufforderung ist Diakon Günther Jäger aus Oberbuch, tätig im Pfarrverband Feichten, gefolgt. Er war als Flüchtlingshelfer auf der griechischen Insel Lesbos tätig. Am 60. Tag seines Einsatzes stand er nicht nur am Rand, sondern blickte direkt in den Abgrund der Gesellschaft.
„Am letzten Tag meines Aufenthaltes haben mich Nicos und Panagiotis, zwei meiner neuen griechischen Freunde gebeten, den Friedhof der Flüchtlinge zu besuchen. Er liegt in der Nähe unseres Stützpunkts. Hier liegen sie, die Toten, die die Reise hier nach Lesbos nicht überlebt haben. Es sind ausschließlich Frauen, Kinder, Männer und Jugendliche, die im Mittelmeer ertrunken sind und deren Leichname hier auf Lesbos angeschwemmt wurden. Sie wurden hier auf dem Acker von Landsleuten beerdigt; in der harten Erde verscharrt. Manche haben Tafeln, auf denen noch ein Name steht. Bei vielen steckt nur noch ein Pfosten in der Erde. Manchmal findet sich ein kleiner Blumenstock.“
Jäger geht still über die von der Sonne verbrannten Wiese. Der Friedhof hat die Ausmaße von zwei Fußballfeldern und ist nur notdürftig abgesperrt. Kein Grabstein; vor ihm nur ein Granitstein, der mit einem weißen Band markiert wurde. „Hier sagt man, sei vor Kurzem ein Baby vergraben worden“, berichtet er. Er betet, segnet die vielen Gräber und bittet um Verzeihung für die, die alles das verursachen.
Viel hat Jäger bei seinem Aufenthalt erlebt – durchaus auch schöne Momente, wie er zugibt. Unzählige Essen hat er mit zubereitet und ausgeteilt, Kleidungspakete zusammengestellt und vor allem Verbindungen zwischen den NGO’s (nicht staatliche Organisationen) geknüpft. „Diese Kontakte waren für mich sehr wichtig. Unter den Organisationen muss man vernetzt sein. Hier hilft jeder jedem,“ berichtet er.
Obwohl schon einige Zeit wieder zu Hause, hat er guten Kontakt zu zwei afghanischen Familien, die ihm besonders ans Herz gewachsen sind und deren Schicksal ihn tief berührt. Die Organisation „Flüchtingshilfe von Doro Blancke“ für die er arbeitet, übernimmt derzeit die Lebenshaltungskosten und die Miete einer Wohnung. Beide Familien dürfen nicht länger im Flüchtlingscamp bleiben, weil ihr Asylantrag negativ beschieden wurde. Mit dieser Entscheidung wurden auch alle Zahlungen der griechischen Regierung eingestellt. Sie stehen mit leeren Händen da.
Die eine Familie, nennen wir sie Familie Bukhari, lebte seit vielen Monaten im Camp Kara Tepe, nahe der Stadt Mytilini. Der Name wurde geändert, weil der lange Arm der Taliban weltweit greift. Dann wurde eine der beiden Töchter (2,5 und 5 Jahre) sexuell missbraucht. Der Asylantrag wurde abgelehnt. Die Verzweiflung der jungen Familie wuchs. Sie haben Angst, dorthin zurückzumüssen, wo die Talibanherrschaft zunimmt und ein geordnetes Leben nicht mehr möglich ist. Weil man nach einer Ablehnung nicht mehr im Camp wohnen darf, wurde eine Wohnung in Mytilini angemietet, um der Familie Unterschlupf zu gewähren und die letzte Chance auf einen Einspruch zu nutzen.
Chasin Al Tabari (Name geändert) musste den Mord seines Bruders durch die Taliban hautnah miterleben. Mit der Waffe auf ihn gerichtet, kam die Drohung „You are the next“. Der junge Familienvater sah sein Überleben und die Sicherheit seiner Frau und seiner beiden Kinder nur noch in der Flucht. Er erreichte Lesbos über das Mittelmeer. Die Kinder anämisch und an Asthma erkrankt, seine Frau inzwischen psychisch erkrankt, er selbst mit medizinischen Problemen, sitzen sie lethargisch vor Günther. Nur manchmal, wenn die Sorgenfalten im Gesicht der Mutter für kurze Zeit weichen, ist zu erkennen, wie hübsch sie ist. Aber die Sorgen über die Situation und die ungewisse Zukunft spiegeln sich schnell in ihrem Gesicht wider. Die junge Frau, etwa 30 Jahre alt, wirkt gealtert, hat jeden Lebensmut verloren.
Geht es nach dem Willen der griechischen Regierung, sollen auch sie so schnell wie möglich das Land verlassen und nach Afghanistan, die Heimat, die keine mehr ist, zurückkehren. Von einer anderen NGO wurden sie in einer Wohnung in Mytilini untergebracht, die unter fadenscheinigen Begründungen gekündigt wurde. „Hier sprang unsere Organisation ein und konnte eine Wohnung finden. Auch die weitere Versorgung der vierköpfigen Familie ist inzwischen durch Spenden gewährleistet. „Einmal pro Woche bin ich mit jeder der beiden Familien zum Einkaufen in den Supermarkt gefahren. Es ist immer ein ganz besonderer Tag für sie. Sie konnten ihren Wochenbedarf an Lebensmittel eindecken, der von uns bezahlt wurde – zwischen 40 und 50 € waren das – für eine Woche – für eine Familie mit 4 Personen. Dabei haben sie sich bescheiden gegeben und keine Extrawünsche geäußert,“ so Jäger. Er berichtet, dass kein Brot gekauft wurde, sondern Mehl. „Brot backe ich selbst“, so der junge Familienvater. Jäger wird von den beiden Familien aufgefordert, ihre Geschichte zuhause zu erzählen. „Die Menschen bei dir sollen wissen, was hier passiert und wie wir leben müssen.“
Ein junger Mann aus Afghanistan, den Jäger im Camp kennenlernte und der dort als Dolmetscher wertvolle Dienste übernimmt, weiß, wie es ist, wenn man nach Afghanistan zurückkehren muss. Er ist selbst 2016 als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, hat hier die Schule besucht und auch gearbeitet. Dennoch musste er 2019 wieder in sein Heimatland zurück. Dort sei es aber für ihn zu gefährlich geworden, erzählt er Jäger. „Viele der Rückkehrer aus Europa werden von den Taliban als Spione und Verräter einstuft und stehen auf ihrer Liste, freigegeben zur Ermordung,“ erklärt er nüchtern. Deshalb habe er sich erneut auf die Flucht gemacht. Auf abenteuerlichen Wegen gelangt er über die Türkei nach Lesbos und lebt seit 19 Monaten dort und hilft im Camp. Sein neu gestellter Asylantrag wurde hier in erster Instanz abgelehnt. Doch auch er gibt die Hoffnung nicht auf.
„Die Menschen vegetieren oft vor sich hin, haben keine Beschäftigung, dürfen nur zwei bis drei Stunden das Camp verlassen. Gerade hat es über dem staubigen Boden über 40 Grad – in den Zelten ist es noch heißer und stickig. Auf dem Fußballplatz oben am Camp ist momentan keiner zu sehen. Es ist zu heiß. Hier zu leben ist einfach schrecklich,“ so Jäger, dem diese Lebenssituation Tag für Tag an die Nieren geht.
„Für die Frauen und Männer, die allein gekommen sind, gibt es getrennte Großraumzelte mit Kabinen. Sechs bis acht Leute schlafen in Stockbetten in einer Box mit Maßen etwa drei Meter Breite und fünf Meter Länge. Für Familien gibt es Zelte, ausgestattet mit einer Bodenplane und Decken. Schritt für Schritt werden jetzt wenigstens Wohncontainer aufgestellt, die ein einigermaßen menschenwürdiges “Wohnen” gewährleisten. Leider sind es bisher viel zu wenig und alles dauert sehr lange,“ bedauert Jäger.
Bei seiner Ankunft seien etwa 6000 Menschen im Camp registriert gewesen, bei seiner Abreise etwa 4300. Wo sie untergekommen sind, weiß Jäger nicht, abgeschoben oder in die Abschiebelager in Athen, vermutet er.
Jägers Vorstellungen über das Camp in Kara Tepe haben sich nicht bestätigt: „Es ist schlimmer, als man sich vorstellt. Für mich war es kaum zu ertragen in die großen angst- und panikerfüllten Augen der Flüchtlinge zu blicken, auf die Selbstverstümmelung eines jungen Mannes, weil die Verzweiflung zu groß ist. Die Kinderaugen, die einen voller Hoffnung anblicken, wenn man ihnen begegnet und ihnen eine Kleinigkeit schenkt, lassen einen nicht mehr los, berichtet er.
Das Erlebte zu verarbeiten, das Unfassbare versuchen zu fassen und den Mut nicht zu verlieren ist das Gebot der Stunde. „Man wird demütig und überdenkt sein eigenes Leben“. Selbst seine Gebete seien anders geworden, die Gottesbeziehung intensiver, aber auch kritischer was seinen Auftrag als Diakon betrifft.
“Was wird den Menschen hier zugemutet?“ fragt er erschüttert. „Wo ist die Europäische Union und wo die Kirche?“, fragt er und blickt traurig in den Himmel.
Doch noch hat Günther Jäger der Mut nicht verlassen. „Voraussichtlich im September werde ich für zwei Wochen noch einmal dorthin fahren. Dann kommt vielleicht meine Frau Uschi mit. Dass sie mich meinen Weg gehen lässt und ihn mitgeht, ist der größte Liebesbeweis, den sie mir geben kann“, sagt er dankbar.
Für die ersten Monate des kommenden Jahres ist nochmal ein längerer Aufenthalt in Griechenland geplant. „Ich kann nicht anders, ich muss nochmal hin und versuchen, weiter zu helfen,“ so Jäger. Wer Günther Jäger kontaktieren möchte, kann sich direkt an ihn wenden. Tel. 08623/919503 oder per email: enzianjaga@gmail.com.
Text: Christine Limmer
Bilder: Diakon Günther Jäger