Soziales

In den Abgrund der Gesellschaft geblickt

Redaktion am 10.08.2021

210810 Diakon Jaeger zurueck 2a Foto: Diakon Jäger / pbp
Diakon Jäger auf dem „Friedhof der Flüchtlinge“.

„Geht bis an den Rand“, dazu hat Papst Franziskus bei seiner ersten Generalaudienz im März 2013 aufgefordert. Dieser Aufforderung ist Diakon Günther Jäger aus Oberbuch, tätig im Pfarrverband Feichten, gefolgt. Er war als Flüchtlingshelfer auf der griechischen Insel Lesbos tätig. Am 60. Tag seines Einsatzes stand er nicht nur am Rand, sondern blickte direkt in den Abgrund der Gesellschaft.

Am letz­ten Tag mei­nes Auf­ent­hal­tes haben mich Nicos und Panagio­tis, zwei mei­ner neu­en grie­chi­schen Freun­de gebe­ten, den Fried­hof der Flücht­lin­ge zu besu­chen. Er liegt in der Nähe unse­res Stütz­punkts. Hier lie­gen sie, die Toten, die die Rei­se hier nach Les­bos nicht über­lebt haben. Es sind aus­schließ­lich Frau­en, Kin­der, Män­ner und Jugend­li­che, die im Mit­tel­meer ertrun­ken sind und deren Leich­na­me hier auf Les­bos ange­schwemmt wur­den. Sie wur­den hier auf dem Acker von Lands­leu­ten beer­digt; in der har­ten Erde ver­scharrt. Man­che haben Tafeln, auf denen noch ein Name steht. Bei vie­len steckt nur noch ein Pfos­ten in der Erde. Manch­mal fin­det sich ein klei­ner Blumenstock.“

Jäger geht still über die von der Son­ne ver­brann­ten Wie­se. Der Fried­hof hat die Aus­ma­ße von zwei Fuß­ball­fel­dern und ist nur not­dürf­tig abge­sperrt. Kein Grab­stein; vor ihm nur ein Gra­nit­stein, der mit einem wei­ßen Band mar­kiert wur­de. Hier sagt man, sei vor Kur­zem ein Baby ver­gra­ben wor­den“, berich­tet er. Er betet, seg­net die vie­len Grä­ber und bit­tet um Ver­zei­hung für die, die alles das verursachen.

Viel hat Jäger bei sei­nem Auf­ent­halt erlebt – durch­aus auch schö­ne Momen­te, wie er zugibt. Unzäh­li­ge Essen hat er mit zube­rei­tet und aus­ge­teilt, Klei­dungs­pa­ke­te zusam­men­ge­stellt und vor allem Ver­bin­dun­gen zwi­schen den NGO’s (nicht staat­li­che Orga­ni­sa­tio­nen) geknüpft. Die­se Kon­tak­te waren für mich sehr wich­tig. Unter den Orga­ni­sa­tio­nen muss man ver­netzt sein. Hier hilft jeder jedem,“ berich­tet er. 

Obwohl schon eini­ge Zeit wie­der zu Hau­se, hat er guten Kon­takt zu zwei afgha­ni­schen Fami­li­en, die ihm beson­ders ans Herz gewach­sen sind und deren Schick­sal ihn tief berührt. Die Orga­ni­sa­ti­on Flüch­tin­gs­hil­fe von Doro Blan­cke“ für die er arbei­tet, über­nimmt der­zeit die Lebens­hal­tungs­kos­ten und die Mie­te einer Woh­nung. Bei­de Fami­li­en dür­fen nicht län­ger im Flücht­lings­camp blei­ben, weil ihr Asyl­an­trag nega­tiv beschie­den wur­de. Mit die­ser Ent­schei­dung wur­den auch alle Zah­lun­gen der grie­chi­schen Regie­rung ein­ge­stellt. Sie ste­hen mit lee­ren Hän­den da. 

Die eine Fami­lie, nen­nen wir sie Fami­lie Buk­ha­ri, leb­te seit vie­len Mona­ten im Camp Kara Tepe, nahe der Stadt Myti­li­ni. Der Name wur­de geän­dert, weil der lan­ge Arm der Tali­ban welt­weit greift. Dann wur­de eine der bei­den Töch­ter (2,5 und 5 Jah­re) sexu­ell miss­braucht. Der Asyl­an­trag wur­de abge­lehnt. Die Ver­zweif­lung der jun­gen Fami­lie wuchs. Sie haben Angst, dort­hin zurück­zu­müs­sen, wo die Tali­ban­herr­schaft zunimmt und ein geord­ne­tes Leben nicht mehr mög­lich ist. Weil man nach einer Ableh­nung nicht mehr im Camp woh­nen darf, wur­de eine Woh­nung in Myti­li­ni ange­mie­tet, um der Fami­lie Unter­schlupf zu gewäh­ren und die letz­te Chan­ce auf einen Ein­spruch zu nutzen.

Cha­sin Al Taba­ri (Name geän­dert) muss­te den Mord sei­nes Bru­ders durch die Tali­ban haut­nah mit­er­le­ben. Mit der Waf­fe auf ihn gerich­tet, kam die Dro­hung You are the next“. Der jun­ge Fami­li­en­va­ter sah sein Über­le­ben und die Sicher­heit sei­ner Frau und sei­ner bei­den Kin­der nur noch in der Flucht. Er erreich­te Les­bos über das Mit­tel­meer. Die Kin­der anämisch und an Asth­ma erkrankt, sei­ne Frau inzwi­schen psy­chisch erkrankt, er selbst mit medi­zi­ni­schen Pro­ble­men, sit­zen sie lethar­gisch vor Gün­ther. Nur manch­mal, wenn die Sor­gen­fal­ten im Gesicht der Mut­ter für kur­ze Zeit wei­chen, ist zu erken­nen, wie hübsch sie ist. Aber die Sor­gen über die Situa­ti­on und die unge­wis­se Zukunft spie­geln sich schnell in ihrem Gesicht wider. Die jun­ge Frau, etwa 30 Jah­re alt, wirkt geal­tert, hat jeden Lebens­mut verloren. 

Geht es nach dem Wil­len der grie­chi­schen Regie­rung, sol­len auch sie so schnell wie mög­lich das Land ver­las­sen und nach Afgha­ni­stan, die Hei­mat, die kei­ne mehr ist, zurück­keh­ren. Von einer ande­ren NGO wur­den sie in einer Woh­nung in Myti­li­ni unter­ge­bracht, die unter faden­schei­ni­gen Begrün­dun­gen gekün­digt wur­de. Hier sprang unse­re Orga­ni­sa­ti­on ein und konn­te eine Woh­nung fin­den. Auch die wei­te­re Ver­sor­gung der vier­köp­fi­gen Fami­lie ist inzwi­schen durch Spen­den gewähr­leis­tet. Ein­mal pro Woche bin ich mit jeder der bei­den Fami­li­en zum Ein­kau­fen in den Super­markt gefah­ren. Es ist immer ein ganz beson­de­rer Tag für sie. Sie konn­ten ihren Wochen­be­darf an Lebens­mit­tel ein­de­cken, der von uns bezahlt wur­de – zwi­schen 40 und 50 € waren das – für eine Woche – für eine Fami­lie mit 4 Per­so­nen. Dabei haben sie sich beschei­den gege­ben und kei­ne Extra­wün­sche geäu­ßert,“ so Jäger. Er berich­tet, dass kein Brot gekauft wur­de, son­dern Mehl. Brot backe ich selbst“, so der jun­ge Fami­li­en­va­ter. Jäger wird von den bei­den Fami­li­en auf­ge­for­dert, ihre Geschich­te zuhau­se zu erzäh­len. Die Men­schen bei dir sol­len wis­sen, was hier pas­siert und wie wir leben müssen.“

Ein jun­ger Mann aus Afgha­ni­stan, den Jäger im Camp ken­nen­lern­te und der dort als Dol­met­scher wert­vol­le Diens­te über­nimmt, weiß, wie es ist, wenn man nach Afgha­ni­stan zurück­keh­ren muss. Er ist selbst 2016 als Asyl­be­wer­ber nach Deutsch­land gekom­men, hat hier die Schu­le besucht und auch gear­bei­tet. Den­noch muss­te er 2019 wie­der in sein Hei­mat­land zurück. Dort sei es aber für ihn zu gefähr­lich gewor­den, erzählt er Jäger. Vie­le der Rück­keh­rer aus Euro­pa wer­den von den Tali­ban als Spio­ne und Ver­rä­ter ein­stuft und ste­hen auf ihrer Lis­te, frei­ge­ge­ben zur Ermor­dung,“ erklärt er nüch­tern. Des­halb habe er sich erneut auf die Flucht gemacht. Auf aben­teu­er­li­chen Wegen gelangt er über die Tür­kei nach Les­bos und lebt seit 19 Mona­ten dort und hilft im Camp. Sein neu gestell­ter Asyl­an­trag wur­de hier in ers­ter Instanz abge­lehnt. Doch auch er gibt die Hoff­nung nicht auf. 

Die Men­schen vege­tie­ren oft vor sich hin, haben kei­ne Beschäf­ti­gung, dür­fen nur zwei bis drei Stun­den das Camp ver­las­sen. Gera­de hat es über dem stau­bi­gen Boden über 40 Grad – in den Zel­ten ist es noch hei­ßer und sti­ckig. Auf dem Fuß­ball­platz oben am Camp ist momen­tan kei­ner zu sehen. Es ist zu heiß. Hier zu leben ist ein­fach schreck­lich,“ so Jäger, dem die­se Lebens­si­tua­ti­on Tag für Tag an die Nie­ren geht. 

Für die Frau­en und Män­ner, die allein gekom­men sind, gibt es getrenn­te Groß­raum­zel­te mit Kabi­nen. Sechs bis acht Leu­te schla­fen in Stock­bet­ten in einer Box mit Maßen etwa drei Meter Brei­te und fünf Meter Län­ge. Für Fami­li­en gibt es Zel­te, aus­ge­stat­tet mit einer Boden­pla­ne und Decken. Schritt für Schritt wer­den jetzt wenigs­tens Wohn­con­tai­ner auf­ge­stellt, die ein eini­ger­ma­ßen men­schen­wür­di­ges Woh­nen” gewähr­leis­ten. Lei­der sind es bis­her viel zu wenig und alles dau­ert sehr lan­ge,“ bedau­ert Jäger. 

Bei sei­ner Ankunft sei­en etwa 6000 Men­schen im Camp regis­triert gewe­sen, bei sei­ner Abrei­se etwa 4300. Wo sie unter­ge­kom­men sind, weiß Jäger nicht, abge­scho­ben oder in die Abschie­be­la­ger in Athen, ver­mu­tet er. 

Jägers Vor­stel­lun­gen über das Camp in Kara Tepe haben sich nicht bestä­tigt: Es ist schlim­mer, als man sich vor­stellt. Für mich war es kaum zu ertra­gen in die gro­ßen angst- und panik­erfüll­ten Augen der Flücht­lin­ge zu bli­cken, auf die Selbst­ver­stüm­me­lung eines jun­gen Man­nes, weil die Ver­zweif­lung zu groß ist. Die Kin­der­au­gen, die einen vol­ler Hoff­nung anbli­cken, wenn man ihnen begeg­net und ihnen eine Klei­nig­keit schenkt, las­sen einen nicht mehr los, berich­tet er. 

Das Erleb­te zu ver­ar­bei­ten, das Unfass­ba­re ver­su­chen zu fas­sen und den Mut nicht zu ver­lie­ren ist das Gebot der Stun­de. Man wird demü­tig und über­denkt sein eige­nes Leben“. Selbst sei­ne Gebe­te sei­en anders gewor­den, die Got­tes­be­zie­hung inten­si­ver, aber auch kri­ti­scher was sei­nen Auf­trag als Dia­kon betrifft.

Was wird den Men­schen hier zuge­mu­tet?“ fragt er erschüt­tert. Wo ist die Euro­päi­sche Uni­on und wo die Kir­che?“, fragt er und blickt trau­rig in den Himmel.

Doch noch hat Gün­ther Jäger der Mut nicht ver­las­sen. Vor­aus­sicht­lich im Sep­tem­ber wer­de ich für zwei Wochen noch ein­mal dort­hin fah­ren. Dann kommt viel­leicht mei­ne Frau Uschi mit. Dass sie mich mei­nen Weg gehen lässt und ihn mit­geht, ist der größ­te Lie­bes­be­weis, den sie mir geben kann“, sagt er dankbar. 

Für die ers­ten Mona­te des kom­men­den Jah­res ist noch­mal ein län­ge­rer Auf­ent­halt in Grie­chen­land geplant. Ich kann nicht anders, ich muss noch­mal hin und ver­su­chen, wei­ter zu hel­fen,“ so Jäger. Wer Gün­ther Jäger kon­tak­tie­ren möch­te, kann sich direkt an ihn wen­den. Tel. 08623/919503 oder per email: enzianjaga@​gmail.​com.

Text: Chris­ti­ne Lim­mer
Bil­der: Dia­kon Gün­ther Jäger

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