Soziales

Als Flüchtlingshelfer in Lesbos

Redaktion am 23.06.2021

210622 Jaeger Lesbos 12 Foto: Günther Jäger

Ende Mai ist Günther Jäger, der als Diakon im Pfarrverband Feichten tätig ist, nach Lesbos aufgebrochen. Doch ein Urlaub ist es nicht – er arbeitet als Flüchtlingshelfer und blickt dort täglich in die Abgründe der Menschheit. Ein Beitrag von Christine Limmer.

Für den 65-jäh­ri­gen war es ein Bedürf­nis an die Rän­der zu gehen, wie es Papst Fran­zis­kus gefor­dert hat. Täg­lich sitzt er nun im son­ni­gen Grie­chen­land. Ein Ort, der vie­le Euro­pä­er für den wohl­ver­dien­ten Urlaub anlockt. Er blickt jedoch hin­ter die Kulis­sen von Erho­lung, Baden im Meer und Sightseeing. 

Täg­lich fährt er ins Lager Kara Tepe 2 (RIC Les­vos), nahe dem Lager Moria, wel­ches durch einen Brand zer­stört wur­de. In dem pro­vi­so­ri­schen Lager leben etwa 7500 Men­schen, dar­un­ter 2500 Kinder. 

Die Lage ist desas­trös“, so Gün­ther Jäger. Die Bli­cke der Men­schen, der Müt­ter, Väter und Kin­der berüh­ren mich sehr. Sie schau­en uns hil­fe­su­chend an. Doch wir kön­nen nicht allen hel­fen, son­dern müs­sen uns auf die beschrän­ken, die die Hil­fe am meis­ten benö­ti­gen. Das sind die neu ange­kom­me­nen Flücht­lin­ge, wel­che die ers­ten zehn Tag im abge­schlos­se­nen Qua­ran­tä­ne­be­reich unter­ge­bracht sind. Dort sind schein­bar gesun­de und die­je­ni­gen mit Covid­ver­dacht“, berich­tet Jäger. 

Täg­lich ist er meh­re­re Stun­den im Camp unter­wegs, je nach­dem was zu tun ist. Man­ches glaubt man zu ken­nen, weil es im Fern­se­hen oder in ande­ren Medi­en schon gezeigt wur­de. Doch es ist weit schlim­mer. Der weit­aus größ­te Teil der Flücht­lin­ge vege­tiert in mehr oder weni­ger guten Zel­ten auf Sand­bo­den zwi­schen Abwas­ser­grä­ben und stau­bi­gen, teils engen Wegen. Alles ist eng auf eng und viel­fach in kei­nem guten Zustand. Der Müll und der Gestank aus den Kloa­ken ist teil­wei­se grau­sam“, so sei­ne Erlebnisse. 

In die­sem Abgrund tätig zu sein, brin­ge ihn täg­lich vor neue Her­aus­for­de­run­gen. Hier macht jeder alles. Essen vor­be­rei­ten, die nöti­gen Zuta­ten her­rich­ten, Essens­por­tio­nen in die Scha­len abfül­len, ver­schlie­ßen und in die Ther­mo­bo­xen ver­stau­en. Ins­ge­samt wer­den bis zu 1200 Mahl­zei­ten für die Flücht­lin­ge bereit­ge­stellt und etwa 100 Mahl­zei­ten für Men­schen außer­halb des Camps. Ich fah­re nahe­zu täg­lich vor­mit­tags die Außen­tour’. Ich bin mit einem klei­nen Auto durch die engen Gas­sen von Myti­li­ne unter­wegs, um Bedürf­ti­ge außer­halb des Camps mit einer war­men Mahl­zeit und sons­ti­gen Hilfs­mit­teln wie Sei­fe oder Dusch­gel zu ver­sor­gen. Auch eine Kir­che ist dabei, die täg­lich 20 Por­tio­nen war­mes Essen von uns bekommt und an die dor­ti­gen armen Ein­hei­mi­schen ver­teilt. Die­se Kir­chen­ge­mein­de lehnt Flücht­lin­ge ab. Ich brin­ge Essen auch ins Abschie­be­ge­fäng­nis und in zwei Behin­der­ten­ein­rich­tun­gen, die vom Staat und der Gemein­de nicht unter­stützt werden.“

Für die Flücht­lin­ge ist die Lage nicht ein­fach: Über 30 Grad, die Son­ne brennt, die Zel­te bestehen aus Pla­nen, unter denen die Hit­ze uner­träg­lich ist. Die Was­ser­ver­sor­gung erfolgt über gro­ße Schlauch­tanks an einer Stel­le des Camps und klei­ne­ren Ver­teil­sta­tio­nen für Trink- und Brauch­was­ser. Hun­der­te Dixi­toi­let­ten ste­hen in gro­ßen Abtei­lun­gen zusam­men. In den Abschie­be­ge­fäng­nis­sen sei es eng und sti­ckig, je nach Bele­gung, so berich­tet Jäger.

Ein­kau­fen ist für die Flücht­lin­ge kaum mög­lich. Ihnen stellt die grie­chi­sche Regie­rung 70 Euro pro Monat zur Ver­fü­gung. Kin­der bekom­men kein Geld. Zum Ver­gleich: Ein Stan­gen­brot kos­tet in Grie­chen­land 1,20 Euro. Im Abschie­be­ge­fäng­nis bekom­men die Men­schen noch weni­ger und müs­sen ihr Essen von ihren kor­rup­ten Bewa­chern erkau­fen, so hat es Gün­ther Jäger erfah­ren. In Deutsch­land ist die sozia­le Unter­stüt­zung für Flücht­lin­ge nach dem Asyl­be­wer­ber­leis­tungs­ge­setz (Asyl­bLG) gere­gelt und sieht einen Regel­satz von 357 Euro im Monat pro Per­son vor, sofern man in einer Gemein­schafts­un­ter­kunft unter­ge­bracht ist. Das sind rund 70 Euro weni­ger als der Hartz IV-Satz.

Im Lager auf Les­bos fin­den sich aber auch Licht­bli­cke, die dem Dia­kon Kraft, Ener­gie, Zuver­sicht und Mut geben, wei­ter­zu­ma­chen. Ein beson­ders schö­nes Erleb­nis war es für mich, als ich einer allein­ste­hen­den jun­gen Mut­ter mit drei Kin­dern einen Kin­der­wa­gen brin­gen konn­te, den sie so drin­gend brauch­te. Wir haben nicht vie­le davon in unse­rem Lager und gehen sehr sorg­sam damit um, wie mit allen Spen­den, die wir hier ver­wal­ten. Aber hier war ech­te Hil­fe nötig. Die freu­de­strah­len­den Augen der Mut­ter zu sehen, war ein zu Her­zen gehen­der Moment für mich – schon weil ich selbst bald wie­der Opa wer­de.“ Vor kur­zem fei­er­ten eini­ge Afri­ka­ner einen klei­nen Got­tes­dienst, berich­tet der Dia­kon. Da sei er kurz hin­ge­gan­gen, um das Gesche­hen am Ran­de mitzuverfolgen.

Es hat mich sehr berührt, wie inten­siv gebe­tet, gepre­digt und gesun­gen wur­de. Eben­falls ein sehr schö­nes Erlebnis.”

Diakon Günther Jäger

Jäger hadert damit, dass die grie­chisch-ortho­do­xe Kir­che kei­ner­lei Unter­stüt­zung für die Flücht­lin­ge leis­tet. Gera­de das Gegen­teil sei der Fall. Die ortho­do­xe Kir­che hier will die Flücht­lin­ge weg haben und ver­ur­teilt jede Hil­fe. Man fei­ert hier täg­lich Got­tes­diens­te, bekreu­zigt sich hun­dert Mal, küsst die Iko­nen, betet zu Gott und ist zugleich ein gro­ßer Geg­ner der Flücht­lin­ge und deren Hel­fer. Wie passt denn das zusam­men? Für mich hat das mit Kir­che und Glau­ben nichts mehr zu tun. Ich ken­ne mitt­ler­wei­len eini­ge Ein­hei­mi­sche, die aus die­sem Grund mit ihrer Kir­che hier nichts mehr zu tun haben wol­len.“ Die Orga­ni­sa­tio­nen vor Ort stel­len alle zwei Wochen für die Neu­an­kömm­lin­ge ein Star­ter­pa­ket zusam­men. Im Som­mer­pa­ket sind für eine Per­son eine Hose, ein Lang­arm- und ein Kurz­arm­shirt, ein Pul­li, zwei Paar Socken, ein Paar Schu­he, eine Decke, ein Hand­tuch, ein Hygie­ne­kit mit Zahn­bürs­te, Zahn­pas­ta, Dusch­gel und Hygie­ne­pro­duk­ten für Frau­en, sowie Schutz­mas­ken enthalten. 

Ein wei­te­res scho­ckie­ren­des Erleb­nis sei es gewe­sen, als er mit Kol­le­gen nach der täg­li­chen Arbeit nach Moly­vos an die engs­te Stel­le zwi­schen Les­bos und der Tür­kei gefah­ren ist. An einem ver­steck­ten Ort, schlecht über Feld­we­ge zu errei­chen, ist eine Depo­nie mit aber­tau­sen­de von Schwimm­wes­ten, zer­fetz­ten Schlauch­boo­ten und sons­ti­gen Schwimm­hilfs­mit­teln. Vie­le erreich­ten die ver­meint­li­che Frei­heit – vie­le jedoch auch nicht. Manch­mal wird hier alles ange­zün­det. Es kommt ja immer wie­der was dazu. Hier zu ste­hen, das muss man aus­hal­ten. Da wird man still und schluckt. Ich ver­such­te still zu beten, doch das gelang mir an die­sem Tag nicht, weil hin­ter jeder Schwimm­wes­te ein Schick­sal eines Men­schen steht“, so Jäger tief ergriffen. 

Ich steh vor einer klei­nen gel­ben Schwimm­wes­te, die wohl ein Kind getra­gen hat. Auf der steht auch in deut­scher Spra­che: WAR­NUNG: Kein Schutz gegen Ertrin­ken. Für Kin­der nur unter stän­di­ger Auf­sicht benut­zen.’ Sol­che Wes­ten wer­den den Flücht­li­gen oft sehr über­teu­ert ver­kauft. Vie­le davon sind pri­mi­ti­ve Fäl­schun­gen und sind alles ande­re als sicher. Skru­pel­lo­se Schlep­per machen hier dre­cki­ges Geld mit der Not der Flücht­lin­ge, die nur eines wol­len: über­le­ben. Ich steh ein­fach da. Die Son­ne brennt auf die roten und gel­ben Wes­ten und die dazwi­schen lie­gen­den schwar­zen zer­fetz­ten Schlauch­boo­te – ein maka­brer Anblick. Es riecht merk­wür­dig — ich kann‘s nicht beschrei­ben. Täg­lich patroul­lie­ren hier Küs­ten­wa­che und Fron­tex­schif­fe samt Heli­c­op­ter mit Wär­me­bild­ka­me­ras und Droh­nen. Wenn Flücht­lin­ge geor­tet wer­den, wer­den sie oft in tür­ki­sche Gewäs­ser zurück­ge­schleppt, so haben es die ein­hei­mi­schen Fischer berich­tet. Mein Herz klopft und ich spü­re, wie die Augen feucht wer­den. Ganz tief in mir regt sich die Fra­ge: War­um nur Gott, war­um nur lässt du das zu…’ 

Trotz allem hat es Jäger noch kei­ne Sekun­de bereut, dort­hin gefah­ren zu sein. Es gibt für mich kei­ne schö­ne­re Auf­ga­be als hier dabei zu sein und zusam­men mit einem groß­ar­ti­gen Team alles zu ver­su­chen, Men­schen hier zu hel­fen. Manch­mal sit­zen wir dann nach der Arbeit zusam­men, trin­ken ein Bier und unter­hal­ten uns über das gemein­sam Erleb­te.” Den Kopf für den nächs­ten Tag bekommt er mit etwas Sport oder lan­gen Spa­zier­gän­gen frei. Die Lau­des, die Ves­per und die Kom­plet, ein stil­les Gespräch mit Gott unter­wegs und das täg­li­che Tele­fo­nat mit sei­ner Frau Uschi am Abend hel­fen zudem enorm, berich­tet er.

Text: Chris­ti­ne Lim­mer
Bil­der: privat

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